Sehe ich in dem Kleid dick aus?

Barcelona  Es ist noch sehr warm, obwohl der Abend schon begonnen hat und außerdem Herbst ist. Doch die große Stadt am Meer ist aufgeheizt, die Sonne schien den ganzen Tag und alle Leute, die den Nachmittag wie wir am Strand oder hinter verschlossenen Fensterläden verbrachten, sind jetzt unterwegs und genießen, flanieren, reden, spazieren, speisen, trinken und lassen es sich gut gehen. Mir tun entsetzlich die Füße weh, wie immer habe ich vom Stadtpflaster spätestens am zweiten Tag Blasen an den Fußsohlen. Im Vorbeigehen sehe ich einen sehr einladend aussehenden Laden. Angenehme Musik, erfrischende Kühle, einige wenige Kunden und Sesselchen zum Ausruhen. Ach, und welch schöne Blusen hängen hier! „Guck mal ! Soll ich die blaue nehmen? Die graue? Grüne?“ – “ Nimm doch beide!“ – „Die sind so schön! Steht gar keine Größe dran, aber sie sehen so als, als passen sie! “ Gekauft. Schon wollen wir weiter flanieren, da fällt mein Auge auf die Schaufensterpuppen. Da ist es! Mein Traumkleid. Ein Traum von einem Kleid! Wunderschön! Richtige Länge, richtige Farbe, richtiges Material, richtige Form – genau so ein Kleid suche ich schon lange und immer wieder. Es hat einen ganz raffinierten Schnitt und an den Seiten ist es offen. Staunend bleibe ich davor stehen und er drängt mich geradezu, es anzuprobieren. In der Kabine ist es warm. Ich entledige mich meiner Shorts, ziehe das TShirt aus und streife das Kleid über. Damit es im Spiegel auch gut aussieht, halte ich die Luft an, ziehe den Bauch ein und strecke mich. Dann zupfe ich alles zurecht und bin zum Empfang bereit. „Sehe ich in dem Kleid dick aus?“ – „Nein, es sieht gut aus!“ – „Quillt hier an den Seiten auch nichts raus?“ – „Nein. Alles wunderbar.“ Jetzt hole ich wieder Luft, drehe mich um und bitte ihn, den Reißverschluss zu schließen. Vor Lachen kann er sich nun noch kaum auf den Beinen halten und unter Schnappatmung teilt er mir mit, dass daran überhaupt nicht zu denken sei. Ich stimme in das Lachen ein, wenn auch gequält. Auf alle Fälle schmeiße ich ihn aus der Kabine raus, denn ich brauche jetzt Platz. Ich muss ja wieder raus aus dem Kleid. Nur wie? Ich ziehe und zerre, die Nähte ächzen, und ich erst. Ich höre von draußen einen weiteren Kommentar: „Dummerweise habe ich kein Taschenmesser dabei. Konnte ja nicht mit ins Handgepäck.“ – „Jetzt hilf doch mal!“ Mit vereinten Kräften gelingt es uns, mich zu befreien. Er hängt das nur leicht lädierte Traumkleid wieder auf und ich verschwinde möglichst unauffällig aus dem Laden. Die wie aus dem Ei gepellten, magersüchtigen Jungverkäufer verziehen ganz professionell keine Miene und tun beschäftigt. Noch zwei Straßen weiter lachen wir mich aus und gehen in eine Bar. Das muss betrunken werden!

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