Günter Grass hat gelesen. Aus seinem neuen Buch. Gestern Abend in Göttingen. Vor über 900 Zuschauern/hörern. Und wir waren dabei!!!!
Als ich das letzte Mal in einem Hörsaal saß, hat er dieses Tagebuch geschrieben. Zeitsprung. Erlebte Geschichte im Vergleich zu den Gedanken eines Literatur-Nobelpreisträgers. Ich war wirklich sehr neugierig und voller Vorfreude. Und jetzt bin ich stark beeindruckt. Aber jetzt der Reihe nach:
Rechtzeitiges Anstehen und gekonntes Drängeln verhalfen uns zu den besten Sitzplätzen, die möglich waren. Das war mir sehr wichtig, denn ich wollte ihn ja auch gut sehen. Er wurde mit Applaus begrüßt, setzte sich in die erste Reihe und ließ das Fotografieren über sich ergehen. Ich habe noch eine halbe Stunde danach blaue Flecken gesehen, wenn ich auf etwas Helles schaute. Die Begrüßungsreden waren kurz und knapp, Herr Grass schenkte sich ein Glas Rotwein ein und ging zum Pult. Dort ging das Glas kaputt, der Rotwein ergoss sich auf Jackett, Pullover, Manuskript und Fußboden. Fleißige Helfer tupften und wischten, Herr Grass ging zum Tisch und goss sich Rotwein in das Wasserglas. Begeisterung im Publikum. „Nach diesem etwas feuchten Anfang“ begann er zu lesen. Und er las weiter und weiter, 90 Minuten lang, zwischendurch nur mal ein Schluck für die Stimme. Aufmerksames Lauschen, gebanntes Zuhören, höchste Konzentration. Ich glaube, er könnte das bürgerliche Gesetzbuch vorlesen, und alle hörten ihm zu. Er las seine Tagebucheinträge beginnend im Januar, seine Intention für dieses Tagebuch wird deutlich, machte Sprünge zu besonderen Ereignissen im März, im Juli, bis hin zum 3./4./5. Oktober 1990. In sparsamen Sätzen persönliche Erlebnisse, politische Ereignisse und Einblicke in seinen Arbeitsprozess, Zeichnungen, Gedanken über Texte, Reden, das nächste Buch. Jedes Wort sitzt. Seine Begegnungen mit Persönlichkeiten aus Politik und Kultur, aber auch mit zufälligen Bekanntschaften auf Reisen. Die Meinung eines Taxifahrers oder Mitreisender bei Zugfahrten. Sehr interessant für mich sein Besuch bei Christa und Gerhard Wolf. Fragen tauchen in meinem Hinterkopf auf: Was habe ich eigentlich damals… Was macht jetzt wohl… Viele Anregungen zum Nachdenken und Erinnern! Im Anschluss an die Lesung die Diskussion. Erst zögerliche Wortmeldungen, dann immer mehr. Wie Herr Grass antwortete fand ich sehr beeindruckend. Die meisten Fragenden baten um seine Meinung zur Politik, 1990 und heute. Er rief die Studenten dazu auf, sich zu engagieren, politische Rechte wahrzunehmen und für Demokratie zu kämpfen. Der Hungerstreik der Kaliarbeiter Bischofferode. Das verbrecherische Tun der Treuhand. Bis heute nicht bestraft. Was machen eigentlich die Journalisten, sie gehen nicht mehr den Dingen auf den Grund. Heuschreckenmentalität. Ein Schnäppchen namens DDR. Demokratie lebt davon, dass verschiedene Ansichten nebeneinander bestehen können. Spielen Sie doch nicht einen Schriftsteller gegen den anderen aus! 60 Jahre Grundgesetz. Vielfalt. Bruch der Verfassung. Er spricht sehr engagiert, beantwortet die Fragen der Studenten, zum Glück hat auch jemand gefragt, was ich auch wissen wollte und so war ich hochzufrieden. Anschließend signierte er seine Bücher, natürlich habe ich mich angestellt und konnte mich so noch persönlich bei ihm bedanken.
Es ist kaum zu glauben, dass er schon über 80 ist! Und ich bin sehr froh, ihn erlebt zu haben! Und jetzt lese ich seine Bücher! (Das einzige, was mich ein bisschen ärgert ist, das wir die Videokamera nicht mitgenommen haben und das mein Fotoapparat mit den Lichtverhältnissen überfordert war.)



